Zur Story: Der indische Geheimdienst beobachtet im Vorfeld der Wahlen in Kashmir verstärkte Aktivitäten der Terroristengruppe Lashkar-e-Toiba und schickt deswegen Vikram Sabharwal (Sanjay Dutt) unter dem Pseudonym Gul Jehangir in die Krisenregion. Dort wird Vikram Zeuge eines Selbstmordattentats auf den Führer der radikalen muslimischen Separatistenpartei PKF Haji Sayyed Shah (Anupam Kher), das den Parteiführer Shabber Ali und dessen Fahrer das Leben kostet. Vikram kommt einer geplanten 'Operation 89' in Jammu auf die Spur, die schlimmere Ausmaße annehmen könnte als die blutigen Aufstände in Kashmir von 1989. Durch seine Begegnungen mit Haji Sayyed Shah, mit der Freiheitskämpferin Aziza (Bipasha Basu), die die radikalen Ansichten ihres Adoptivvaters Haji teilt, mit Aatif Hussain (Kunal Kapoor), der sich von der PKF losgesagt hat und nun mit einer eigenen Partei bei den Wahlen antreten und für Frieden und Freiheit kämpfen will, und vielen anderen verdichten sich für Vikram allmählich die Hinweise auf Quelle und Auslöser des Extremismus...
"God made heaven. Man created hell. This is the story of Kashmir."
Lamhaa ist definitiv ein Film, den man zweimal sehen muss. Nicht unbedingt wegen der Darsteller, auch wenn allen voran Sanjay Dutt und Anupam Kher intensive Darbietungen abliefern und auch der Rest des Casts, von Bipasha Basu über Kunal Kapoor (wenn man seine weniger überzeugenden Szenen als politischer Redner ausklammert) bis hin zu den großartigen Nebendarstellern rund um Jyoti Dogra (Badi Bi), Shernaz Patel (Parveena) und Mahesh Manjrekar (Peer), wenig zu wünschen übrig lässt. Auch nicht unbedingt wegen der Landschaftsaufnahmen, auch wenn sie teilweise atemberaubend schön sind – und es einen dann umso heftiger trifft, wenn selbst die schönsten Landschaftsbilder nie frei von Stacheldraht sind (besonders eindringlich zu beobachten während des Songs "Madhno Re").
Nein, der Grund liegt in der Überfülle an Informationen, die Parzania-Regisseur Rahul Dholakia in vielen Jahren intensiver Vor-Ort-Recherche in Kashmir angesammelt und in seinem dann auch dort (teilweise unter großen Gefahren) gedrehten Film Lamhaa (= Moment) verarbeitet hat. Beim ersten Ansehen ist man – selbst wenn man sich vorher über den Film und seinen Hintergrund informiert hat – noch zu sehr damit beschäftigt, diese Informationsflut aufzunehmen, zu verarbeiten und zu ordnen. Letzten Endes spiegelt der Film dadurch sogar genau die Verwirrung und Unruhe wider, die in Kashmir (leider) herrscht. Wenn man dann jedoch das zweite Mal rangeht mit dem nunmehr vorhandenen Vorwissen, auch über den Handlungsablauf, dann trifft einen der Film endgültig ins Mark.
Ich weiß, dass das eigentlich gegen den Film spricht – ein Film sollte imstande sein, sich bereits beim ersten Mal begreifbar zu machen. Völlig korrekt. Andererseits, auch bei vielgelobten Filmen wie Matrix kommt man bestimmt nicht schon beim ersten, sondern erst beim dritten oder vierten Mal anschauen (vielleicht) darauf, dass die Handlung das Große Arkanum der Tarotkarten nachvollzieht. Um mal nur ein Beispiel zu nennen. Insofern darf man auch Lamhaa ruhig eine zweite Chance geben.
Vielleicht hätte Dholakia zwei oder drei Filme aus seinem Material machen sollen. Und ganz bestimmt hätte er ein paar fast ärgerliche Fehler vermeiden müssen – von der viel zu kleinen Schrift bei den wichtigen Erläuterungen der historischen Hintergründe im Vorspann, die es einem fast unmöglich macht, sich dieses Wissen anzueignen, bis hin zu dem unnötigen Zeitlupen-Intro Sanjay Dutts, das sich wohl anbietet, wenn Sanjay coole Heroes, Bhais oder Gangster spielt, bei einem Geheimdienst-Agenten in einer Realitätsstory jedoch absolut unpassend ist, zumal der Film dadurch bereits in den ersten Minuten seinen Seriositätsanspruch zu verspielen droht. (Das gleiche Spiel wiederholt sich später beim Motorrad-Intro von Kunal, das ebenfalls eine Coolness indiziert, die danach nicht weitergeführt wird.)
Dennoch sollte man sich Lamhaa ansehen. Oder eben, wie gesagt, zweimal. Oder noch öfter (ich bin inzwischen bei diesem Stadium angelangt). Damit man das ganze Ausmaß der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung, der Angst, des Zorns, des Identitätsverlusts in Kashmir zumindest ansatzweise erahnen kann – samt dem Radikalismus und der unfassbaren Machenschaften, die dahinterstecken und die Situation in Jammu und Kashmir ebenso unüberschaubar und unlösbar machen wie den Film. Man hat Dholakia vorgeworfen, keine Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Aber wie könnte er? Wenn es welche gäbe, würde man dann nicht längst versuchen, sie anzuwenden? Wenn das Ende von Lamhaa ein offenes ist, das einen mit einer gewissen Ratlosigkeit und Verwirrung zurücklässt, dann ist es das einzige Ende, das dem Film und seinem Thema gerecht wird.
Denn eines zeigt Lamhaa in aller Gnadenlosigkeit: Alle profitieren von den Zuständen in Kashmir – Regierung, Militär, Politiker, Polizei, Geheimdienste... bis hin zu dem Schneider, der seine Uniformen den Militanten ebenso verkauft wie den unterbezahlten Soldaten. Aatif Hussain, der den Waffen abschwört ("sie sind gegen den Islam"), bringt es am deutlichsten auf den Punkt, wenn er Haji ins Gesicht sagt: "Ihr alle verkauft Freiheitsträume. Ihr habt aus Kashmir eine Firma gemacht." Peer setzt sogar noch einen drauf: "Kashmir ist eine riesengroße Firma, mit der sie täglich Millionen von Rupien verdienen." Selbst der diensthabende Grenzsoldat streicht seinen Profit ein, wenn er gegen hohe Bestechung für drei Stunden die Grenze öffnet, damit 30 Pakistani eingeschleust werden können – plus fünf weitere, damit die Grenztruppen ihr Quantum erschießen können. Die Regierung profitiert vom Terror – je größer die Angst vor dem Terror, desto größer ist das Budget. Deshalb darf es keine Freiheit geben, ja nicht einmal den Gedanken daran. Und so leben die Menschen weiterhin in ihrem "schönen Gefängnis" Kashmir, wo sie tagtäglich Kontrollen passieren, sich ausweisen und jederzeit damit rechnen müssen, von einer Kugel getroffen zu werden (egal ob von Terroristen oder vom Militär). In Dardpura, dem Dorf der Halbwitwen in Nordkashmir, werden weiterhin über 10.000 Frauen nach ihren spurlos (in indischen Gefängnissen?) verschwundenen Ehemännern und Söhnen suchen. In Lashkar, dem Kindertrainingslager im von Pakistan okkupierten Teil Kashmirs, werden weiterhin Kinder zu willenlosen Selbstmordattentätern abgerichtet werden. Und kein verantwortlicher Politiker wird jemals verhaftet werden. Schließlich genießt man diplomatische Immunität. Während das Volk seine Identität verliert ("Why am I a stranger in my own world?").
Ich möchte zum Abschluss dieser Betrachtung eine indische Freundin zitieren, deren Ansichten über Lamhaa ziemlich genau den meinen entsprechen: "Der Film erzählt keine groß angelegte, umfassende Geschichte, weil Kashmir diesen Zustand erreicht hat: Die Politik, die Terroristen, die einfachen Menschen, die Armee, die Regierungen etc. sind so eng miteinander verwoben, wie ein Knoten, der nicht gelöst, sondern nur noch zerhauen werden kann. Das Ende war für mich sehr befriedigend, weil es genau das ist, was man fühlt nach dem Tod des kleinen Kindes im Krieg der wahnsinnigen Erwachsenen – ein tiefes Nichts – was kann man tun? Es gibt kein glückliches Ende, nicht einmal ein zufriedenstellendes. Wer die Chance hat, den Film ein zweites Mal zu sehen, sollte es unbedingt tun – er wird es zu schätzen wissen." (Moha Dholakia Mehta)
Produktion: Bunty Walia, Juspreet Singh Walia; Regie: Rahul Dholakia
111 Min.; DVD: Big Home Video, englische UT (inkl. Songs)
Offizielle Website
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Rahul Dholakias Blog-Einträge zu Lamhaa:
"Welcome to Kashmir. The most dangerous place in the world."
Hum Kya Chathe? "Azaadi"
Kashmir - The beautiful prison
Kashmir - AK47
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