Samstag, 14. April 2007

Movie 3/1995: Sanjus Zellengefährte Pyara Singh berichtet...

Movie, März 1995
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Herzzerreißend:
Sanjays Zellengefährte Pyara Singh über Dutts traumatische Tage im Gefängnis!


Für mich war Sanjay Dutt immer einer von Gottes „Auserwählten“ gewesen. Auserwählt, die Extreme der Existenz zu erfahren – Leben und Tod, Schmeicheleien und Fallengelassenwerden, große Erfolge und abgrundtiefe Misserfolge, Exstase und Leiden, Freiheit und Gefangenschaft. Deswegen musste Sanjay Dutt, geboren im Schoß eines unvorstellbaren Luxus, worin er auch sein Leben geführt hatte, auch Verluste der schlimmsten Sorte erleben. Beraubt des Zugangs zu allem, was das Leben schön macht, allem voran das Sonnenlicht. Und doch, wie grausam seine derzeitige Prüfung ist, hätte ich nie erfahren, wäre ich nicht Sanjays Zellengefährten Pyara Singh begegnet.

Pyara Singh war vor drei Jahren wegen angeblicher Beteiligung an den Revolten in Amarnagar, Mulund unter TADA verhaftet worden. Unlängst war er in der Anhörung zu seinem Fall für nicht schuldig befunden worden. Doch drei Jahre und drei Monate eines unmenschlichen Daseins im Thane-Gefängnis haben die Seele des Lastwagenfahrers und Ex-TADA-Häftlings verbittert und verschreckt. Schon über den Albtraum zu reden, den er überlebt hat, macht ihm Angst. „Ich bin skeptisch bei jeder Begegnung mit Menschen“, antwortete er mir am Telefon, als ich ihn um ein Interview bat. „Ich muss vorsichtig sein“, erklärte er. „Ich kann mir keine Fehler leisten. Ich habe genug verloren. Mein Haus und mein Truck wurden konfisziert, meine Frau und meine fünf Kinder sind durch die Hölle gegangen. Und alles, weil ich eine lizensierte Rifle besaß.“ Schließlich stimmte er einem Treffen mit mir zu, wenn auch immer noch ängstlich besorgt.

In einem Vorstadtrestaurant, bei einem ziemlich langen Lunch, erzählte mir Pyara Singh die unglaubliche Geschichte seines Lebens im Gefängnis, in der Sanjay Dutt eine wichtige Rolle spielen sollte. Ich habe seine Worte auf Band aufgezeichnet:



Sanjay Dutt wurde in der Zelle eingesperrt, die der meinen gegenüber lag in der Anda Barrack, also dem Hochsicherheitstrakt im Thane Jail, in dem Gefangene mit hohem Sicherheitsrisiko sowie Untersuchungshäftlinge untergebracht werden. Dieser Trakt ist eiförmig, daher wird er üblicherweise Eizelle genannt (anda = Ei).

In dieser Anda Barrack gibt es acht oder zehn kleine käfigartige Zellen in zwei Reihen, jede etwa 10x10 foot (= ca. 3x3 Meter) groß. Die einzige Öffnung in jeder Zelle ist eine Tür aus Eisenstäben, durch die man in die gegenüberliegende Zelle sehen kann. Kein natürliches Licht dringt in diese Zellen; es gibt Leuchtstoffröhren, aber keine Ventilatoren. Jede Zelle ist ausgestattet mit einem Bettlaken, einer Matratze und einem Kissen aus Kokosfasern. In einer Zellenecke ist eine Toilette eingebaut. Jede Toilette hat nur einen Hahn und keine Spüleinrichtung. Deshalb hängt Tag und Nacht ein Gestank nicht nur über der Zelle, sondern über der gesamten Baracke. Und noch dazu kannst du dem anderen dabei zusehen, wenn er die Toilette benutzt.

Üblicherweise wird in jeder Zelle nur eine Person untergebracht, aber bei zu vielen Gefangenen auf einmal stecken sie auch schon mal zwei oder drei in eine solche Zelle.

Ich erinnere mich an den Morgen des 4. Juli 1994, als der Häftling in der mir gegenüberliegenden Zelle woanders hingebracht wurde. Wir alle in der Anda Barrack waren neugierig. Wer würde wohl an seiner Stelle kommen? Wir hatten keine Ahnung, dass es Sanjay Dutt sein würde.

Gegen sechs Uhr abends waren wir alle am Beten; wie immer betete einer von uns laut, während die anderen zuhörten. Plötzlich sahen wir einen finster dreinblickenden Sanjay Dutt in Jeans und Hemd die Baracke betreten, gefolgt von mehreren Gefängnisbeamten. Er hatte eine kleine Tasche und einige Papiere in der Hand. Man führte ihn in die mir gegenüberliegende Zelle und schloss ihn dort ein. Als die Beamten gegangen waren, stand Sanjay eine Weile einfach nur da; vermutlich versuchte er, mit der Situation klarzukommen und seine Fassung wiederzufinden. Dann setzte er sich mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck auf den kalten Fußboden. Ich dachte, er würde in Tränen ausbrechen. Aber das tat er nicht. Ich hatte ziemliche Angst vor ihm. Ich fragte mich, ob ich ihn ansprechen sollte. Ich dachte, als großer Star würde er vielleicht nichts mit uns zu tun haben wollen. Aber dann rief ich doch zu ihm hinüber: „Sanjay Dutt, was ist passiert?“ Er blickte auf: „Die Kaution wurde widerrufen“ sagte er sanft und versuchte, seine Gefühle zu verbergen.

„Wie schön, dass du mit mir redest, Taooji.“ Er nannte mich Taooji, das hat mich unglaublich berührt. Wir unterhielten uns eine Weile. Er sprach halb Punjabi und halb Hindi. Ich fragte ihn, ob er etwas gegessen hätte. Er sagte: „Nein. Man hat mir gesagt, dass hier um vier Uhr gegessen wird und dass es danach nichts mehr gibt. Ich muss also bis morgen warten.“ Zum Glück hatte ich noch etwas Essen übrig und ließ es ihm durch den Gefängniswärter zukommen, und er aß es hungrig. Danach kamen wir ernsthaft ins Gespräch. Er erzählte mir, dass man ihm etwas angehängt hätte und dass er unschuldig sei. Ich versuchte, ihn zu trösten. Alles an ihm schrie lautlos: Warum ich?

Langsam gewöhnte er sich an das Gefängnisleben wie wir alle. Er wachte gegen sechs Uhr auf, und wir alle beteten miteinander. Gegen sieben wird der Tee gebracht, und dann wird einer nach dem anderen zum Waschen zum anderen Ende der Baracke geführt. Da Sanjay an Duschen gewöhnt war, hatte er am ersten Tag noch Probleme mit dem Wasser aus dem Krug; mehrfach glitt es ihm aus der Hand. Ich beobachtete, dass er Shampoo für seine Haare und Seife für den Körper benutzte. Seine Kleidung wurde zum Waschen zu ihm nach Hause geschickt. Er pflegte vier bis fünf Tage am Stück die gleichen Sachen zu tragen, üblicherweise Jeans und eine weiße Kurta. Irgendwann fing er an, barfuß zu laufen. Außerdem ließ er sich seine Haare und seinen Bart wachsen und sagte, er würde sich erst nach seiner Freilassung und einem Besuch in Tirupati wieder rasieren.

Nach dem Waschen wird gegen 11.30 Uhr Lunch serviert, üblicherweise Reis, Brot, wässrige Linsen und halbgekochtes Gemüse. Da uns nichts anderes übrigblieb, aßen wir das Zeug still. Anfangs war es Sanjay nicht gestattet, Kleidung und Essen von zu Hause zu erhalten. Man behandelte ihn ziemlich streng. Später lockerten die Autoritäten ihren Griff ein wenig, und man durfte ihm Essen von zu Hause schicken. Doch nach ein paar Wochen bat er, damit aufzuhören – er wollte nicht, dass es ihm besser ging als den anderen. Und glauben Sie mir, er aß alles, was man ihm vorsetzte. Sogar trockenes Brot.

Sanjay war so bescheiden; nicht für einen Moment ließ er uns spüren, dass er der Sohn eines großen Mannes bzw. selber ein Superstar war. Er aß das gleiche Essen wie wir und trank das gleiche Wasser wie wir. Er wurde einer von uns.

Das Schlimmste am Leben in Anda Barrack ist die Einsamkeit, die einem die meiste Zeit über aufgezwungen wird. Gut, jeden Tag dürfen sich die Gefangenen nach dem Lunch eine Stunde lang frei innerhalb der Anda Barrack bewegen, jeweils zwei auf einmal. Dann kann man andere Gefangene besuchen, mit ihnen reden, und dann kehrt man zurück in seine eigene Zelle, die hinter einem zugesperrt wird. Ich hatte Sanjay Fotos von Shirdiwalebaba, Calcuttawali Mata und Shankar Bhagwan für sein Zimmer (nennen wir seine Zelle mal so) zur Verfügung gestellt. Die ersten anderthalb Monate war Sanjay nicht einmal diese Freiheit vergönnt. Er rauchte ziemlich viel. Eine Packung pro Tag. Aber ich glaube, früher hatte er zwei bis drei Packungen pro Tag geraucht. Die Zigaretten wurden ihm von zu Hause geschickt.

Ich beobachtete, dass er viel schrieb. Bis halb zwölf oder zwölf Uhr nachts pflegte er zu schreiben. Ich weiß nicht, was er alles schrieb, aber ich vermute, er beantwortete die Briefe, die täglich säckeweise bei ihm ankamen; die meisten davon von Mädchen, die ihn ihrer unsterblichen Liebe versicherten. Er hat uns ein paar davon vorgelesen. Ich sage Ihnen, es waren einzig und allein diese Briefe, die ihn bis heute am Leben gehalten haben. Er war völlig gebrochen und am Boden zerstört. Nur wenn er diese Briefe las, habe ich ihn glücklich gesehen. Und er möchte wirklich jeden Brief einzeln beantworten. Er hat sogar angefangen, ein Tagebuch zu führen. Aber – traurig, aber wahr: Alle Briefe, der er erhielt und die er selber schrieb, gingen durch die Hände der Zensur.

Wenn er sein Schreibpensum für den Tag erledigt hatte, unterhielt sich Sanjay mit uns. Oft machten wir Scherze, um uns die Zeit zu vertreiben. Wenn eine Zelle leerstand, priesen wir sie als perfekte leerstehende Wohnung an – „gut möbliert, 24 Stunden lang Wasser und moskitofrei“. Solche Momente hielten uns bei Laune. Ansonsten war alles schrecklich. Das Leben im Gefängnis ist ein Albtraum, wirklich. Oft haben wir auch Lieder gesungen. Anfangs hielt sich Sanjay zurück, aber allmählich wurde er zugänglicher. Unsere Code-Wort war „powerful“. Wenn jemand fragte „Wie geht’s?“, dann sagten wir „powerful“ und meinten damit „großartig“. Aber manchmal gingen uns die Gesprächsthemen aus. Wieviel kann man reden und worüber? Wir verloren uns jeweils in unsere eigenen Gedanken. Er dachte viel an seine Mutter. Oft meinte er, wenn sie nur da wäre, dann würden die Dinge für ihn anders stehen. Seine Schwestern kamen jeden zweiten Tag, aber sie durften nicht zu ihm, sie konnten ihn nur aus einiger Entfernung sehen. Nur wenn sein Vater kam, durfte Sanjay seine Zelle verlassen und mit ihm reden. Handschellen wurden ihm jedoch nur dann angelegt, wenn er zum Gericht musste. Jedem Gefangenen, der zum Gericht gebracht wird, werden an den Gefängnistoren Handschellen angelegt, die ihm erst dann wieder abgenommen werden, wenn er in die Baracke zurückgekehrt ist.

Ich versuchte mein Bestes, um Sanjay aufzuheitern und bei Laune zu halten. Meistens war sein Gesichtsausdruck angespannt. Wir versuchten, Witze zu reißen und ihn zum Lachen zu bringen. Oft sagte ich ihm, verlier nicht den Mut. Alles wird gut. Gott ist da, und ich bat ihn, nie aufzuhören zu beten, und das tat er auch.

Die einzige Möglichkeit für uns, das Zeitgefühl zu wahren, war die Gefängnisglocke, die zu jeder vollen Stunde läutete. Wir durften zwei bis drei Morgenzeitungen erhalten. Die Times of India, Indian Express und eine Zeitung in unserer Muttersprache. Damals kam gerade Khalnayak raus, und wir beschlossen, uns den Film gemeinsam anzusehen, wenn wir einmal alle frei sein würden. Sanjay erklärte uns viele Details des Filmemachens und all die technischen Aspekte. Er erzählte uns von all seinen Filmpartnerinnen. Über seine Frau sprach er nie. Ein- oder zweimal erwähnte er, dass er seine Tochter vermisse. Aber er sprach oft über Rhea und erklärte immer wieder, dass sie seine Wunschehefrau sei. Er schilderte sie uns als sehr häuslich, einfach und gutherzig. Er wollte sie heiraten und würde dies auch ganz bestimmt tun, sobald er freigelassen würde. Ich habe sie ein paarmal im TADA-Gerichtssaal gesehen. Sanjay hat sie mir sogar vorgestellt. Sie scheint ein sehr nettes Mädchen zu sein. Sie hat durch dick und dünn zu ihm gehalten. Wirklich ein unglaubliches Mädchen.

Sanjay hat sich noch mit einem anderen jungen Mann im Gefängnis angefreundet, Rammi. Sie haben viel miteinander geredet. Die drei Memon-Brüder teilten sich die Zelle neben der von Sanjay, aber sie blieben die ganze Zeit über unter sich. Sie haben nicht viel mit den anderen geredet.

In all den sechs Monaten, die wir zusammen im Gefängnis waren, habe ich Sanjay nur einmal extrem verärgert erlebt. Irgendeine Zeitung hatte geschrieben, man habe Sanjay weinen gesehen, und er meinte: „Wie wollen die wissen, was hier drin geschieht?“ Glauben Sie mir, er ließ seinen Gefühlen niemals freien Lauf. Er war ohne Zweifel niedergeschlagen, aber er hielt seine Emotionen unter Kontrolle. Er ist sehr stark. Natürlich sehnte er sich mit aller Macht nach Freiheit wie wir alle. Ich weiß noch, wie er einmal vom Gericht in Delhi zurückkam und zu mir sagte: „Taooji, es ist so schön, frei zu sein.“ Er tat mir so leid. Ein andermal fragte er mich: „Taooji, wie lange bist du schon hier?“ Als ich sagte „drei Jahre“, brach ihm das das Herz. Der Gedanke, wie lange all diese TADA-Fälle brauchten, um vor Gericht verhandelt zu werden, flößte ihm Angst ein.

Sanjay trainierte regelmäßig. Er zeigte uns allen verschiedene Übungen, und wir versuchten, sie durchzuführen. Das machte Spaß. Wir teilten ein paar wirklich schöne Momente, aber tief in uns drinnen waren wir alle beunruhigt.

Dann, eines Tages, klagte Sanjay über Schmerzen in der Brust und über Atemnot. Ich riet ihm, den Gefängniswärter zu kontaktieren. Ein Arzt wurde gerufen, der ihm Medikamente verschrieb. Man stellte ihm Sauerstoffmasken zur Verfügung. Für kurze Zeit ging es ihm besser, dann kamen die Beschwerden wieder. Dieses Mal brachte man ihn zu einer Untersuchung in das J.J. Hospital.

Zur nächsten Anhörung brachte man ihn direkt aus dem Krankenhaus in den Gerichtssaal. Zum Glück hatte auch ich am gleichen Tag eine Anhörung. Wir konnten uns aber nur kurz sehen und nicht viel miteinander reden. Dann fuhren sie ihn zurück ins Krankenhaus.

Inzwischen wurde ich freigelassen und war wieder ein freier Mann. Für mich selbst war ich glücklich, aber Sanjay tat mir leid. Auch nach meiner Entlassung im Dezember 1994 bin ich mit Sanjay in Kontakt geblieben. Ich habe ihn seitdem wohl an die sechs Mal besucht. Er hat mich jedem Mitglied seiner Familie als „my Taaoji“ vorgestellt. Das ist wirklich so süß von ihm. Er erzählt ihnen, dass ich mich sehr um ihn gekümmert hätte, dass ich darauf geachtet hätte, dass er ordentlich isst, und dass ich ihm eine große Hilfe war. Seine Familie war sehr bewegt. Dutt saab (Sunil Dutt) sagte zu mir: „Ich bin glücklich darüber, dass man dich freigelassen hat.“

Ich wünsche mir aufrichtig, dass Sanjay so bald wie möglich freigelassen wird. Ich gehe dreimal täglich nach Gurudwara, nur um für ihn zu beten. Ich möchte ihn in Freiheit sehen.


Anhang (handschriftliche Notiz von Sanju):
„Lieber Taaooji – Danke für alles, was du für mich getan hast. Bitte seid lieb zu meinem Taaooji, wo immer ihr ihm begegnet. Alles Liebe, Sanjay Dutt“



(Aruna Kalarikal; Deutsch von Diwali)

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