Extrakte aus: Suketu Mehta, Bombay – Maximum City
Diese Auszüge sollen nicht das Lesen des gesamten und hochinteressanten Buches ersetzen! Mehtas Erkenntnisse über Verbindungen zwischen Bollywood und der Unterwelt sowie seine Berichte über die Mumbaier Unruhen von 1992/93 sind ausgesprochen lesenswert!
Suketu Mehta traf Sanjay während der Dreharbeiten zu Mission Kashmir (die hier zitierten Gespräche fanden also um 1999/2000 statt). Vidhu Vinod Chopra machte die beiden miteinander bekannt, und als Sanjay zudem erfuhr, dass er und Suketu eine gemeinsame Freundin haben – die Fotografin Dayanita Singh –, fasste er offenbar Zutrauen zu Suketu, denn er erzählte ihm mehr, als dieser zu hoffen gewagt hatte. (Dayanita ist für Sanju wie eine Schwester; schon während seiner Schulzeit hatte er ihr regelmäßig ein Rakhi umgebunden.) „Das waren schwarze Tage“ sagt Sanjay über die Zeit, in der er verhaftet wurde und sich fast die gesamte Filmindustrie von ihm abwandte – Freunde wie Vinod waren damals eine Rarität für ihn. Suketu begleitete ihn zum TADA-Gericht, wo sich Sanjay ins Kautionsregister eintrug, und beobachtete, wie er mit seinen Mitangeklagten redete. „Ich habe das Gefühl, dass Sanjay diese Gesetzlosen als seine eigentliche Familie betrachtet. Bei ihnen hat er die Freunde gefunden, die er im Internat nie hatte, die schweren Jungs, die ihn vor den Klassenrüpeln und sadistischen Lehrern beschützen.“ (Anm. Diwali: Mag ja sein, trotzdem zählt für Sanju, so wie ich es sehe, in erster Linie seine eigene Familie – seine verstorbenen Eltern, seine Schwestern, seine Tochter etc.)
In seiner Wohnung in Bandra mit Blick aufs Meer, erzählte Sanjay Suketu von seiner problematischen Jugend. Er begann, Gras zu rauchen, weil das bei den Jungen aus guter Familie in Bombay damals üblich war, „um in die Szene reinzukommen“. Aber, so Sanjay, „Einer von zehn wird süchtig. Der eine war ich.“ Bald nahm er stärkere Drogen – Quaaludes, Kokain, Heroin, setzte sich immer wieder einen Schuss. Der frühe Krebstod erst seiner Mutter und dann seiner ersten Frau machte das Ganze nicht besser. Nach dem Tod Richas ging Sanjay allein und weinend durch die winterlichen Straßen New Yorks...
Endlich unternahm er etwas gegen seine Sucht, reiste zur Therapie nach Jackson in Mississippi. Das Amerika des Marlboro-Mannes faszinierte ihn, und er investierte seine Ersparnisse in die Rinder-Ranch eines Bekannten aus Texas, den er in der Entzugsklinik kennengelernt hatte. Einen Monat lebte Sanjay auf dieser Ranch, bis Sunil Dutt persönlich anreiste und Sanjay nach zwei Tagen härtester Auseinandersetzungen nach Bombay zurückholte.
Sanjay entwickelte einen extremen Beschützerinstinkt für die Frauen in seiner Familie. Dayanita Singh, die immer bei den Dutts wohnte, wenn sie in Bombay war, erzählte, dass Sanjay, egal wie spät sie abends nach Hause kam, immer noch wach war und erst nach ihrer Rückkehr wortlos zu Bett ging. Während der Unruhen in Bombay war er besessen von der Idee, dass seine Familie in Gefahr war; er fürchtete um ihr Leben. Dabei fürchtete er Gefahr nicht nur von Seiten der Muslime, sondern auch von Seiten der Hindus – wegen seiner muslimischen Mutter und wegen der ablehnenden Haltung seines Vaters gegen die Sena-Partei. Deshalb besorgt er sich die „Gitarre“ – jenes fatale Sturmgewehr vom Typ AK-56. Suketu zitiert auch den, wie er sagt (und wie auch nicht zu überhören ist), Sanjay gegenüber nicht sehr freundlich eingestellten Cop Ajay Lal (der, als er erfuhr, dass Sanjay in Mission Kashmir mitspielen würde, prompt äußerte, dass das dann wohl ein TADA-Film würde), der Sanjay eine Faszination für die Unterwelt unterstellt und behauptet, dass Sanjay als Preis für die „Gitarrenlieferung“ Anees, dem Bruder von Dawood Ibrahim, und Abu Salem versprochen habe, seine Garage als Unterschlupf für die Waffenlieferungen für die Anschläge zur Verfügung zu stellen...
Sanjay befand sich 1993 zu Aatish-Dreharbeiten auf Mauritius, als Alay Lal anfing, reihenweise an den Attentaten beteiligte Verschwörer zu verhaften. Daraufhin holten, wie bekannt, Freunde Sanjays Waffen aus seinem Haus und schmolzen sie in einer Gießerei ein. Dort fand die Polizei eine Feder und ein Metallteil, die zu einem Gewehr gehörten, und ließ Sanjay aufgrund dieser Indizien verhaften.
Laut Suketu gibt Sanjay Sharad Pawar, dem mächtigen Führer der Kongresspartei, die Schuld an seinen Problemen, denn Pawars größter Rivale ist Sanjays außergewöhnlich populärer Vater Sunil Dutt (ein muslimischer Regierungsbeamter meinte einmal gegenüber Suketu, es sei ihm egal, welche Partei er wähle, Hauptsache es sei die von Sunil Dutt). Pawar sagte zu Sunil, er könne Sanjay binnen fünfzehn Tagen freibekommen, wenn er als Kronzeuge auftrete. Sanjays Kommentar: „Wenn ich als Kronzeuge ausgesagt hätte, dann hätte ich zugegeben, dass ich an der Verschwörung beteiligt war. Wie würde das aussehen? Wie würde sich das auf meine Familie auswirken?“
Pawar versicherte Sunil außerdem, Sanjay würde nach seiner Rückkehr aus Mauritius eine halbe Stunde festgehalten und dann freigelassen. Daraufhin wies Sunil Sanjay an, aus Mauritius zurückzukommen. Doch als Sanjay bei seiner Ankunft die Rolltreppe von der Ankunftshalle des Flughafens herunterkam, sah er sich zweihundert Einsatzkräften mit auf ihn gerichteten Waffen gegenüber. Alay Lal führte Sanjay ab und verhörte ihn. Dann kam Sanjay ins Gefängnis in der Arthur Road. Offensichtlich hielt man es nicht für notwendig, Sunil Dutt darüber zu informieren – erst einige Tage später erhielt Sanjay über Mitgefangene (u.a. der Bruder eines Bandenbosses, deren Beziehung Vorlage für den Film Parinda ist) die Möglichkeit, seinen Vater anzurufen. Als Sunil seinen Sohn daraufhin besuchte, musste er Sanjay gestehen: „Jetzt kann ich nichts mehr für dich tun.“ „Ich weinte und weinte“, erinnert sich Sanjay.
Eine Freilassung auf Kaution lehnte die Regierung ab. Der erste Richter, Patel, hatte es sich in den Kopf gesetzt, Sanjay dranzukriegen. Als Sanjays Anwalt beantragte, den Richter wegen Voreingenommenheit abzulehnen, begannen die Probleme für Sanjay erst richtig – der Antrag wurde abgelehnt, und Patel wandte sich mit neuem Hass gegen Sanjay. Erste Maßnahme war die Einzelhaft; dazu Sanjay: „Angeblich gab es Hinweise, dass ich getötet werden sollte. Zu meiner eigenen Sicherheit kam ich in Einzelhaft, ein verdammter Witz.“ Drei Monate lang sah er kaum Tageslicht, lebte in einer zwei vierzig mal zwei vierzig großen Zelle mit einer Toilette, die ihm zugleich als Waschbecken dienen musste. Seine Familie schickte ihm Essen, das jedoch nie bei ihm ankam. Die Einsamkeit machte ihn fast wahnsinnig.
Suketu: „Sanjay freundete sich mit der Natur an. Durch den winzigen Lüftungsschacht kamen jeden Abend vier Spatzen in seine Zelle, und Sanjay streckte seine große Pranke mit Krümeln für sie aus. Er sehnte sich verzweifelt nach einer Berührung, und die kleinen Vögel ließen sich von ihm anfassen und streicheln. Er freundete sich auch mit den Ameisen an, die aus dem Abflussrohr kamen. (...) Flach auf dem Boden liegend beobachtete er stundenlang die Ameisen, die sich mit den Essenskrümeln abplagten und sie über den Abwasserabfluss schleppten. ‚Wenn ein Krümel zu groß war, hielt ich ihn fest und hob ihn über den Abfluss. Das war wie ein Hubschrauberflug für sie.’“ Außerdem erhielt Sanjay regelmäßig Besuch von einer sogenannten Maulwurfsratte, die er General Saab nannte, weil sie regelmäßg auftauchte wie ein General, der die Kaserne inspiziert.
Nach drei Monaten, in denen Sanjay niemanden von seiner Familie gesehen hatte, drehte er durch und schlug mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe, bis er blutete und mit zehn Stichen genäht werden musste. Daraufhin steckte man ihn in eine Zelle mit einundzwanzig Terroristen aus dem Punjab, die sich um ihn kümmerten und ihm von dem Essen abgaben, das sie auf einem aus Steinen gebauten Herd aus dem Gefängnisessen zubereiteten: „Sie waren sehr emotional, liebenswerte Sardars“ erinnert sich Sanjay. Seine in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse über Kinder, die in Slums angeheuert und zu Auftragsmördern ausgebildet werden – er lernte im Gefängnis viele von ihnen kennen – gab er später nach seiner Freilassung an Drehbuchschreiber weiter. Außerdem fiel ihm auf: „Die Menschen, die mit Verbrechen zu tun haben, sind sehr gottesfürchtig. Sie beten alle sehr viel, und alle hassen diese verdammte Regierung.“ Dass seine vor seiner Verhaftung ohnehin schon als unübertroffen gegoltene Fähigkeit, Verbrecher zu spielen, nach seiner Zeit im Gefängnis noch besser geworden sei, kommentierte Sanjay mit „Man sagt, ich sei gereift und in meinen Augen sei der Schmerz zu lesen“. (Anm. Diwali: Genau dieses, Sanju!)
Auf die Frage, was das schlimmste im Gefängnis gewesen sei, antwortete Sanjay: „Es war die Frage: Warum hat man mir das angetan? Warum kam ich ins Gefängnis? Ich habe Killer gesehen, die dreißig Leute umgebracht haben, sie kamen und gingen vor mir. Ich dachte, wenn ich rauskomme, werde ich verdammt noch mal Menschen umbringen. Als ich ins Gefängnis kam, wog ich hundert Kilo, ich war muskulös. In drei Monaten habe ich über fünfunddreißig Kilo abgenommen.“ Man drohte ihm mit Folter: „Man zeigte mir den dritten Grad, um mich zu brechen.“
Sanjay macht keinen Hehl aus seiner Wut über den Zustand seines Landes: „Es heißt, dieses Land sei die größte Demokratie der Welt. Es ist ein verdammtes Stück Scheiße. (...) Als die Briten Indien verließen, ließen sie das Gesetz zurück, und sie ließen die ganze Scheiße zurück. Ambedkar änderte die Verfassung des Landes, aber er änderte nicht das Gesetz. Für die Briten waren die ganzen Freiheitskämpfer – Tilak und so weiter – Terroristen. Wenn Verfassung und Gesetz nicht zusammenpassen, dann sitzt man tief in der Scheiße.“ (Anm. Diwali: Dieser Kommentar durfte vor dem TADA-Urteil an die Öffentlichkeit? Respekt.)
Suketu: „Der einzige Politiker, über den Sanjay nicht schimpft, ist Bal Thackeray, der Führer der politischen Partei, die für die Unruhen verantwortlich ist – eben jene Unruhen, die Sanjay in so große Angst versetzten, dass er zum Schutz seiner Familie um Waffen bat. Bal Thackeray hat ganz Bombay gezeigt, dass er die Muslime in die Schranken weisen kann; derselbe Mann demonstrierte aber auch seine Macht, seine Großmut und seine Liebe zur Filmindustrie, indem er seine Regierung anwies, Sanjay Dutt auf Kaution freizusetzen, den Sohn der Muslimin Nargis Dutt.“
Dass Sanjay spätestens mit Vaastav und Mission Kashmir sein drittes Comeback beim Film erlebte, hält ihn nicht davon ab, wenig schmeichelhafte Gedanken über seine Branche zu hegen, gegen die Kriminelle in seinen Augen schon wieder ehrlich sind, weil sie nicht verbergen, was sie tun: „Die Filmbranche ist ein Haufen Scheiße, bhenchod. Hier geht es darum, den anderen aufs Kreuz zu legen. Wenn jemand anfängt, Erfolg zu haben, schickt man Leute ins Kino, die ihn ausbuhen, schlechte Kritiken über ihn schreiben.“ (Anm. Diwali: Meine Herren, was muss alles in dem Mann nagen und wühlen...)
Auf die Frage, was er im Falle eines Freispruchs machen würde, meinte Sanjay, er wolle drei Millionen Dollar verdienen, nach New York ziehen, von den Zinsen leben und ein Steakhaus eröffnen. Er hat ein kleines Apartment gegenüber von Macy’s in Manhattan. Auf jeden Fall will er weg von Bombay: „Ich habe diese Stadt einmal geliebt. Heute ist es hier zu gefährlich.“ Und er wäre näher bei seiner Tochter, die sich in den USA sehr wohl fühlt.
Dass Sanjay sich heute bevorzugt vegetarisch und von gekochten Speisen ernährt, liegt daran, dass er wegen seiner früheren proteinlastigen Ernährung Nierenprobleme bekommen hatte.
Dann erzählt Suketu von einem weiteren Besuch Sanjays beim TADA-Gericht, diesmal wegen einer Anhörung zum Fall. Während der Autofahrt koordinierte Sanjay Drehtermine und betete jedes Mal kurz, wenn sie an einem Tempel vorbeifuhren. Unterwegs holten sie einen der Mitangeklagten ab (Sanjay: „Wir sind alle unschuldig“), Hanif Kadawala, der wenige Monate später, im Februar 2001, erschossen wurde – einer von sieben Angeklagten, die in jenem Jahr gewaltsam zu Tode kamen. Suketu braucht einen halben Tag, um sich Zugang zum Gericht zu verschaffen; am Nachmittag nimmt sich Richter Kode kurz Zeit für ihn. Während er die ganze Zeit „pan“ kaut, hält er Suketu einen Vortrag über dessen Verantwortung als Schriftsteller, Indien vor der Welt positiv darzustellen, da man vielerorts die Inder für Wilde halte. Indien habe das beste Rechtssystem der Welt. Richter Kode hat selbst zu diesem Zeitpunkt (2000) achttausend Seiten an Beweisen zusammengestellt, die Gesamtzahl liegt bei dreizehntausend. Kode: „Ich habe keinen einzigen Tag freigenommen, nicht einen einzigen Tag Urlaub, nicht einen einzigen Tag habe ich – dank der Gnade Gottes – aus gesundheitlichen Gründen freinehmen müssen.“ Kode hat 23 Mann zu seinem Schutz.
Als die Gerichtsverhandlung mit Richter Kode beginnt, meint Sanjay zu Suketu: „Das ist wie ein Familientreffen.“ In der Tat plaudern Polizisten und Gerichtsdiener ganz freundlich mit den Angeklagten über private Themen. Dann erscheint der Richter, und die Anwesenheitsliste wird vorgelesen, alle 124 Namen, und jeder Angeklagte vermeldet seine Anwesenheit. Administrative Fragen werden geklärt, Anwälte bringen Anträge ein. Währenddessen unterhalten sich die Angeklagten, die ganz hinten im Saal sitzen und nichts von dem hören, was vorne verhandelt wird, über verschiedenste Themen, werden immer wieder zur Ruhe ermahnt, aber ebenso regelmäßig schwillt der Geräuschpegel wieder an. Die Atmosphäre insgesamt ist angenehm und friedlich. Am Ende gibt der Richter den Angeklagten zwei Wochen frei, in denen sie sich in Indien ungehindert bewegen können. Was Sanjay zu dem sarkastischen Kommentar veranlasst: „Das ist ein Witz. Wir könnten nach Nepal fliehen, und niemand würde es erfahren.“
In anderen Kapiteln berichtet Suketu über die MK-Dreharbeiten in Kashmir, bei denen Fiktion und Realität mehr als einmal haarscharf aneinander vorbeischrammten, von der Symbiose zwischen Bollywood und der Unterwelt, ohne die die Hindi-Filmindustrie über Nacht zusammenbrechen würde, von dem Anschlag auf Rakesh Roshan, von Drohanrufen während der MK-Dreharbeiten – und von dem Erfolg von Mission Kashmir, der sogar im Präsidentenpalast Rashparati Bhavan für den indischen Präsidenten vorgeführt wurde. Dabei war auch Sanjay Dutt anwesend. Befragt, was ihm dabei durch den Kopf gegangen war, da er noch wenige Jahre zuvor noch in einer Gefängniszelle saß, antwortete Sanjay:
„Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich war ganz benommen. In einer Art Rausch. Ich konnte beim besten Willen nicht glauben, dass ich, der vor Gericht als Krimineller galt und gilt, vom Präsidenten Indiens persönlich eingeladen war. Das hat mich davon überzeugt, dass die höchsten Mächte des Landes an meine Unschuld glauben, dass sie wissen, ich bin in eine Falle geraten, gestellt von meinen Feinden, wer immer sie sein mögen. Es war der größte Augenblick in meinem Leben, als Präsident Narayan mir die Hand gab und auf die Schulter klopfte. Ich habe in dieser Nacht so tief geschlafen wie noch nie in meinem Leben. Indien liebt mich. Die Menschen Indiens wünschen mir nur das Beste. Sie sind bereit, mir all die Liebe zu geben, um die ich sie gebeten hatte.“
(Zusammengefasst und zitiert von Diwali)
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